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Leoluca Orlando

„Ich bin ein Mensch“

Holger Schäfers

Erfolgreich hat er gegen die Mafia gekämpft, jetzt setzt sich Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando für den Schutz von Flüchtlingen ein und fordert eine staatliche Seenotrettung und einen europäischen Verteilungsmechanismus. Ein Gespräch über Menschlichkeit.

Auf dem Kirchentag in Dortmund haben Sie eindringlich für eine europäische Seenotrettung appelliert, was ist Ihr Anliegen?

Leoluca Orlando: Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben! Es kann nicht sein, dass Europa seine Seele verkauft. Konkret brauchen wir eine staatliche Seenotrettung und einen europäischen Verteilungsmechanismus. Auch dürfen Menschen, die Leben retten, nicht weiter kriminalisiert werden. Es gibt überall in Europa Städte und Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, jetzt geht es darum, die Wege dorthin zu ermöglichen. Mehr als 60 europäische Kommunen haben sich dem Aufruf der „sicheren Häfen“ angeschlossen. Nun brauchen wir in der EU eine „Koalition der Willigen“, die handelt.

Vor vier Jahren haben Sie maßgeblich die „Charta von Palermo“ mitverfasst. Worum geht es darin?

Leoluca Orlando: Vor allem geht es um Freizügigkeit als unveräußerliches Menschenrecht. Denn niemand kann sich den Ort aussuchen, an dem er oder sie geboren wird. Und wenn alle Menschen gleich sind, kann ein Recht auf Freizügigkeit nicht nur den EU-Bürger*innen zugestanden, aber Menschen aus Ghana, Usbekistan oder Mexiko versagt werden. Außerdem geht es bei alledem eben nicht allein um Flüchtlinge, sondern letztlich um uns selbst und die Selbstachtung: Menschenleben aus Seenot zu retten bedeutet auch, unsere Menschlichkeit zu retten. Die Charta fordert eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Auch Seebrücken-Initiativen orientieren sich an ihr.

Gibt es einen Bezug zwischen Ihrem Engagement gegen die Mafia und Ihrem Einsatz für Geflüchtete?

Leoluca Orlando: Die zwei Themen kann man nicht trennen. Sie stehen in Verbindung miteinander. Gegen die Mafia zu sein und für die Rettung Geflüchteter zu sein heißt, Respekt vor Menschenrechten zu haben. Wer keine Chance auf ein normales Leben hat, der wird zur leichten Beute von Mafia und Terroristen. Die von Innenminister Matteo Salvini versprochene Sicherheit kann es nicht geben, wenn nicht alle Bürger*innen über die gleichen Rechte verfügen. Wer Migration und Kriminalität gleichsetzt, will Panik machen. Das ist gefährlich. Denn aus Sorge kann Angst werden, Angst vor Menschen, die anders sind, fremd sind. Aber ich bin zuversichtlich. Als ich vor dreißig Jahren sagte, die Mafia könne besiegt werden, hat das niemand geglaubt. Wir haben es aber geschafft, und heute will in Palermo niemand mehr, dass die Stadt wie früher von der Cosa Nostra regiert wird. Das wünsche ich mir auch für die Flüchtlingspolitik.

Wie reagiert die Regierung auf Ihr Engagement?

Leoluca Orlando: Kürzlich sind zwei Kollegen von mir aus anderen Städten schon verurteilt worden, weil sie gegen das neue Gesetz für innere Sicherheit rebelliert haben, und ich warte seit ein paar Monaten darauf, dass auch ich angeklagt werde. Wir haben das Problem, dass die verschärften Regelungen der Einwanderungspolitik gegen unsere Verfassung und die Grundwerte verstoßen – und deshalb eigentlich Unrecht sind. Wenn ich mich verteidigen müsste, würde ich mich darauf berufen, dass ich das italienische Recht respektiere, zu dem der Schutz von Minderheiten, Schwachen, Ausgegrenzten und Flüchtenden gehört. Ich kenne mich da ganz gut aus – als ehemaliger Juraprofessor.

Welchen Weg gehen Sie in Palermo?

Leoluca Orlando: In Palermo gibt es keine Migranten oder Migrantinnen, wer in unserer Stadt lebt, ist ein Palermitano, ein Bürger dieser Stadt. Dafür bin ich von Anfang an eingetreten. Warum soll ich zwischen Einheimischen und Bürger*innen, die später bei uns angekommen sind, unterscheiden? Das macht keinen Sinn. Menschen, die zu uns kommen, werden als Einwohner registriert, und wir geben ihm oder ihr eine reale Existenz. Palermo ist gastfreundlich zu den Flüchtlingen und gleichzeitig sicher. Wir sind heute die sicherste Stadt Italiens, darauf bin ich stolz. Wir in Palermo wollen keine Angst vor Fremden haben oder gar schüren. Denn das mündet in Gewalt. Wir kümmern uns um sie, wir lassen niemanden verhungern, verdursten oder erfrieren, wir helfen und bieten öffentliche Leistungen – ohne zusätzliche staatliche Mittel zu verlangen.

Wie schaffen Sie es, dass auch die Bevölkerung mitzieht?

Leoluca Orlando: Wir müssen deutlich machen, dass Migration Teil der Geschichte und Kultur von uns allen ist. In jeder Familie gibt es Auswanderer, Vertriebene oder Flüchtlinge, in allen Jahrhunderten, aus wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Gründen. Im Übrigen zieht unsere Offenheit junge Leute, Künstler, Investoren und Veranstalter an – und wir haben mehr Touristen als Venedig. In Palermo haben wir den Grundsatz: „Io sono Persona.“ Ich bin Mensch, jeder ist Mensch, zusammen sind wir eine Gemeinschaft. Das ist unser Lebensstil und unsere Kultur geworden.

Haben Sie nie Angst?

Leoluca Orlando: Ich spreche lieber von Sorge als von Angst – und die gibt oder gab es natürlich. Angst ist zum Beispiel ein wesentlicher Bestandteil der Macht der Mafia. Um sie zu brechen, haben wir in Palermo versucht, sie als Schande zu brandmarken. Und die wollen die Menschen, zumindest die übergroße Mehrheit, nicht auf sich sitzen lassen. Was im Mittelmeer passiert, ist auch eine Schande. Das darf man nicht länger zulassen. Darum muss ich handeln. Es geht immer um die Überwindung von Angst und Schande.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Leoluca Orlando: Unsere Zukunft hat zwei Namen. Ein Name ist Google, Alibaba oder Facebook. Der andere Name ist Ahmed – der Migrant. Der erste steht für virtuelle Verbindungen, der zweite für menschliche Verbindungen. Die zwei müssen in Harmonie bleiben. In einer Welt zu leben, wo es nur Google gibt, ist eine Tragödie. In einer Welt zu leben, wo nur Ahmed der Migrant ist, gibt es keine Hoffnung auf eine Zukunft. Deswegen brauchen wir beides. Ich denke, wir müssen unserer Zukunft zwei Namen geben: Google und Ahmed.

Das Gespräch führte Britta Jagusch auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019.

Erschienen in: Das Sonderheft zum Kirchentag 2019
Der Kirchentag - Das Magazin 03-2019

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