Stellungnahme
Aufenthaltsverfestigung für Geduldete darf keine Lotterie sein
iStock/Alessandro Biascioli19.01.2023 bj Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Am 1. Januar 2023 ist das Chancen-Aufenthaltsrecht in Kraft getreten. Die Situation der Geduldeten soll, wie im Koalitionsvertrag der Bundesregierung angekündigt, verbessert werden. Obwohl das Gesetz positive Signale sendet, sind die Hürden für ein Bleiberecht hoch. Die Chancen, die das Gesetz bietet, werden viele Personen in Duldung nur dann erreichen, wenn Kommunen und Soziale Arbeit dabei unterstützt werden, das Gesetz mit Maßnahmen zur erfolgreichen Implementierung und Realisierung umzusetzen.
Was ermöglicht das Gesetz?
Das neue Chancen-Aufenthaltsrecht eröffnet Personen, die sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufhalten, eine Chance auf eine Aufenthaltserlaubnis [§§25a/b AufenthG]. Als Brücke wurde der neue §104c im Aufenthaltsgesetz eingeführt, eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“. Betroffene müssen bei der zuständigen Ausländerbehörde einen Antrag auf Erteilung stellen. Innerhalb von 18 Monaten nach der Antragstellung sollen die Voraussetzungen – weitgehende Sicherung des Lebensunterhaltes, die Klärung der Identität und der Erwerb von Sprachkenntnissen – für ein Bleiberecht erbracht werden. Gelingt dies nicht innerhalb dieser 18 Monate, fallen die Personen trotz aller Bemühungen unmittelbar und alternativlos in den prekären Status der Duldung zurück.
Wir begrüßen es, dass zumindest ein Teil der Personen in Duldung künftig bessere Voraussetzungen für ein Bleiberecht in Deutschland haben wird. Sie müssen zum Zeitpunkt der Antragstellung weder ihre Identität nachweisen noch ihren Lebensunterhalt eigenständig bestreiten. Ein Ende der Unsicherheit und schwierigen Lebenssituation dieser gesellschaftlichen Gruppe ist jedoch nicht in Sicht.
Geringe Chancen auf die Verfestigung des Aufenthalts?
Selbst nach Einschätzung der Bundesregierung soll nur ein Bruchteil der Personen, die geduldet sind, vom neuen Recht profitieren. Das liegt an verschiedenen Einschränkungen des Personenkreises: Die Personen dürfen nicht straffällig geworden sein, nicht wiederholt vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht und dadurch ihre Abschiebung verhindert haben. Zudem gibt es eine Stichtagsregelung, die bereits im Vorfeld von vielen Organisationen kritisiert wurde: Von den im ursprünglichen Entwurf genannten ca. 248.000 Personen erfüllen nach Einschätzung nur rund 136.000 Geduldete zum Stichtag 01.01.22 die fünfjährige „Voraufenthaltszeit“. Alle genannten Zugangshürden sorgen dafür, dass über 100.000 geduldete Menschen nicht in das Chancen-Aufenthaltsrecht einbezogen werden. Diese Personen sind weiterhin dem Schicksal der Kettenduldungen ausgesetzt.
Durch die Verschiebung des Stichtags für die Voraufenthaltszeit um 10 Monate auf den 31.10.22 wird die Zahl der Anspruchsberechtigten leicht steigen. Das Bundesinnenministerium prognostiziert, dass ca. 98.000 Personen einen Antrag auf das Chancen-Aufenthaltsrecht stellen werden, letztlich aber nur rund 33.000 Personen überhaupt ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten werden. Die übrigen Personen würden in die Duldung zurückfallen. Die Gründe für diese niedrige Zahl werden im Dokument nicht erläutert.
Wir gehen davon aus, dass erfolgreiche Verfestigungen des Aufenthalts sehr stark davon abhängen werden, ob und welche Maßnahmen auf der kommunalen Ebene ergriffen werden, um die Geduldeten bei der Erfüllung der gesetzlich geforderten Voraussetzungen zu unterstützen. Gleichzeitig befürchten wir, dass die unbegründet niedrige Zahl als Richtschnur für die Ausländerbehörden dienen könnte und zum Anlass genommen wird, Ermessens- und Entscheidungsspielräume restriktiv auszulegen.
Bei der Umsetzung des Gesetzes sollte den prekären Lebensverhältnissen der Geduldeten Rechnung getragen werden.
Erfahrungen mit früheren Bleiberechtsregelungen zeigen, dass Personen, die über Jahre in Duldung leben, aufgrund ihrer Lebenslage in Unsicherheit, Abschottung und Armut, Unterstützung und Zeit brauchen, um an sie gesetzte Erwartungen zu erfüllen. Sie leben unter starker Belastung und Angst vor Abschiebung. Zugänge zu Arbeit oder Ausbildung sind oft begrenzt bzw. versperrt. Jahrelange Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften schränkt die aktive Teilhabe an der Gesellschaft fundamental ein. Die Möglichkeiten und Voraussetzungen, um die deutsche Sprache zu lernen oder einen Ausbildungsplatz zu finden, sind stark begrenzt. Innerhalb von 18 Monaten die geforderten Sprachkenntnisse zu erbringen, wird für viele geduldete Menschen eine zu hohe Hürde sein. Bestehende Sprachkurse sollten für alle Geduldeten geöffnet und an ihren Bedürfnissen orientiert werden. Möglich wäre es, niedrigschwellige Sprachkurse u.a. in Gemeinschaftsunterkünften zu schaffen.
Es ist bislang ungeklärt, wie das neue Gesetz implementiert werden soll, um die Zielgruppe tatsächlich zu erreichen. Geduldete sind eine sehr heterogene Gruppe (z.B. bezüglich Geschlecht, Herkunftsland, Bildung etc.), d.h. ihre Bedarfe sind sehr unterschiedlich und sollten entsprechend berücksichtigt werden.
Der Nachweis der Sicherung des Lebensunterhalts wird ein wichtiges und schwer zu erreichendes Kriterium bleiben. Arbeitsmarktpolitische Entwicklungen spielen an dieser Stelle eine Rolle. Die Coronapandemie hat gerade bei Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus zu Arbeitsplatzverlusten geführt. Geduldete arbeiten auf der untersten Stufe des Arbeitsmarktes unter höchst prekären Arbeitsbedingungen. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen können solchen Entwicklungen entgegenwirken. Ein Teil der Geduldeten ist bereits Adressat*in von Arbeitsmarktprogrammen, die auf Landes- und Bundesebene finanziert werden. Solche Arbeitsmarktprogramme benötigen mehr Ressourcen und ein auch an den Bedarfen von Geduldeten orientiertes Programm.
Was ist zu tun?
Gezielte Informationspolitik auf kommunaler Ebene
Aus unserer Forschung wissen wir, dass Geduldete, da sie nur selten Zielgruppe integrationspolitischer Maßnahmen sind, kaum über Informationen bezüglich ihrer Rechte verfügen. Die Nichtinanspruchnahme von Leistungen ist u.a. Resultat fehlender Informationen und Folge von Stigmatisierung. Deshalb müssen Betroffene umfassend darüber informiert werden, ob sie zur Gruppe der Anspruchsberechtigten gehören und welche Konsequenzen dies für sie hat bzw. haben kann. Ziel muss es jetzt sein, dass die Betroffenen über das Chancen-Aufenthaltsrecht informiert werden und gemeinsam mit fachkundigen Personen prüfen können, ob es für sie eine gute Option ist, das Chancen-Aufenthaltsrecht zu beantragen.
Unterstützung kommunaler Beratungsstellen und migrantischer Organisationen
Beratungsstellen, Verbände, Vereine, migrantische (Selbst-)Organisationen und Initiativen, die einen unterstützenden Zugang zu Personen in Duldung haben, sind jetzt (mal wieder) vermehrt gefragt. Selbst professionelle Akteur:innen in der Beratung beklagen, dass ihnen das notwendige Know-how fehlt, um die Gruppe der Geduldeten ihrem Bedarf angemessen zu beraten. Um gezielte Informationspolitik leisten zu können, müssen sie entsprechend ausgestattet werden. Es müssen Mittel auf der Bundeslandebene bzw. von den Kommunen zur Verfügung gestellt werden, dass die Personengruppe 1.) über ihre Rechte informiert wird und 2.) dabei unterstützt wird, die geforderten Voraussetzungen im Rahmen der 18 Monate zu erbringen. Es muss vermieden werden, dass zivilgesellschaftliche Organisationen diese Lücke ohne staatliche Unterstützung ausschließlich mit ihren eigenen Ressourcen füllen müssen.
Spezialisierte Angebote, Beratung und Anlaufstellen
Für den gesamten Prozess, von den Überlegungen zur Antragstellung über die Erfüllung der Bedingungen innerhalb der 18 Monate bis zum Abschluss, braucht es mehr Beratungs- und Unterstützungsangebote für Geduldete, auch in den Unterkünften. Eine gute Beratung ist basal, sie umfasst einerseits Rechts- und Sozialberatung und andererseits eine enge Begleitung der Menschen im Prozess der Antragstellung und Realisierung der Voraussetzungen. Sozialer Arbeit kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Es könnte ein niedrigschwelliges Angebot z.B. nach dem Modell einer Clearingstelle eingerichtet werden, in der geduldete Personen an ihrem Bedarf orientiert beraten werden.
Die Kommunen haben eine wichtige Verantwortung
Bislang gibt es wenige Maßnahmen, die kommunal für die Gruppe der Geduldeten initiiert wurden. Die Kommunen haben aber durchaus Handlungsspielräume. Dies zeigte sich bei der Fluchtmigration 2015, aber auch aktuell beim Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine. Erstens können Kommunen Koordinierungsstellen einrichten. In vielen Kommunen gibt es Beratungsstellen, Initiativen und Ehrenamtliche, die Geduldete bei der Umsetzung der Aufenthaltsverfestigung unterstützen. Eine Koordinierungsstelle könnte den Informationsfluss zwischen diesen Einrichtungen verbessern. Zweitens können die Kommunen in den Unterkünften Informationen bereitstellen, um die Geduldeten zu erreichen und sie an die richtigen Stellen weiterzuleiten. Drittens können Kommunen zeitnah einen Runden Tisch mit allen behördlichen (u.a. Ausländerbehörde, Jugend- und Sozialamt, Integrationsamt) und zivilgesellschaftlichen Akteuren initiieren, um gemeinsam Probleme und Lösungsmöglichkeiten auszuloten. Kommunen sollen die Kommunikation zwischen den zuständigen Abteilungen sowie mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren verbessern, gegebenenfalls durch multidisziplinäre Teams.
Ein Kulturwandel in den Ausländerbehörden ist notwendig und möglich
Im Dokument „Anwendungshinweise zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts“ des Bundesministeriums des Innern und für Heimat wird hervorgehoben, dass die Ausländerbehörden angehalten sind, „die betroffenen Menschen in ihren Bemühungen zur Erlangung eines Bleiberechts zu unterstützen und auf weiterführende Hilfsangebote hinzuweisen sowie ggf. geeignete Ansprechpartner in anderen Behörden zu benennen.“[1] In jüngster Vergangenheit haben Ausländerbehörden wiederholt ihre Ermessensspielräume insbesondere gegenüber Geduldeten restriktiv genutzt. Von Seiten der Behörde sollte alles dafür getan werden, dass das Chancen-Aufenthaltsrecht im Sinne der Geduldeten umgesetzt wird. Ausländerbehörden können so eine bedeutsame integrationspolitische Rolle spielen. Dies kann zum Beispiel durch ein erstes informatives Anschreiben aller Betroffenen geschehen, das über Anspruch und Voraussetzungen aufklärt. Dafür sollen die Ausländerbehörden in ihrem Aktenbestand überprüfen, wer das Chancen-Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen könnte. Schulungen der Mitarbeiter:innen der Ausländerbehörden mit Blick auf die neue Rechtslage sind notwendig. Zudem sollen die Mitarbeiter:innen für die prekäre Lebenslage der Geduldeten sensibilisiert werden, nicht zuletzt um Ermessensspielräume, im Sinne des Gesetzesvorhabens, zur Unterstützung dieser Menschen anzuwenden. Ausländerbehörden sollten mit den Organisationen, die sich für das Bleiberecht von Geduldeten einsetzen, in eine offene Kommunikation treten. Dafür wäre eine direkte persönliche Ansprechperson in den Ausländerbehörden sinnvoll, die unkompliziert erreichbar ist und über Erfahrungswerte verfügt.
Statt populistischer Stigmatisierung von Geduldeten muss eine an Fachlichkeit und am Selbstverständnis eines modernen Einwanderungslandes orientierte Migrationspolitik Teilhabe für eine besonders vulnerable Gruppe ermöglichen.
Jüngst wurde die Abschiebung von ausreisepflichtigen Menschen im Rahmen einer sogenannten Rückkehr-Offensive gefordert. Bei diesen Personen handelt es sich zum großen Teil um Geduldete. Diese Forderung führt in die Irre und stigmatisiert Menschen, die in Duldung leben und die aus vielen verschiedenen Gründen in Deutschland bleiben, z.B. aus medizinischen Gründen, aufgrund familiärer Bindungen, fehlender Reisedokumente oder dringender persönlicher und humanitärer Gründe. Gerade sie stellen die Zielgruppe des Chancen-Aufenthaltsrechts dar und dürfen nicht zur Zielscheibe irreführender populistischer Stimmungsmache werden.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht schließt an die Grundidee bisheriger Maßnahmen an: Ein Aufenthalt muss zwar durch besondere Anstrengungen „verdient“ werden, es werden aber keine Voraussetzungen geschaffen, um diese Chancen auf einen Aufenthalt zu realisieren. Eine echte Wende würde der Aufenthaltssicherung den Vorrang geben. Dies würde eine Ausgangslage schaffen, die den Betroffenen physische, emotionale, soziale Stabilität gewährt und ökonomische Möglichkeiten eröffnet, selbst gewählte Lebenswege zu gehen. Alle Möglichkeiten, die das Chancen-Aufenthaltsrecht bietet, sollten dennoch genutzt und die dafür erforderliche Unterstützung muss bereitgestellt werden. Die Realisierung o.g. kurzfristiger Ziele darf aber nicht aus dem Auge verlieren, dass es langfristig darum geht, umfassende Teilhabe für Menschen in Duldung zu ermöglichen.
Die Autor*innen dieser Stellungnahe arbeiten gemeinsam im Forschungsprojekt „Teilhabe trotz Duldung? Kommunale Gestaltungsräume für geduldete Jugendliche und junge Erwachsene“, das von der Mercator Stiftung gefördert wird. Das Forschungsprojekt analysiert im Rahmen von drei Teilprojekten insgesamt in sechs Kommunen (in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen) empirisch die Teilhabebedingungen Geduldeter in Ausbildung und Arbeitsmarkt sowie die Rahmenbedingungen der Verfestigung ihres Aufenthaltes im Horizont unterschiedlicher Stadt- und Landespolitiken. Im Projekt sind sowohl die kommunalen Kooperationsbeziehungen zwischen relevanten Ausbildungs- und Arbeitsmarktakteur:innen und Unterstützungssystemen (engagierte Zivilgesellschaft, Soziale Arbeit) als auch die Konfliktfelder von Interesse. Zudem wird die subjektive Perspektive der Geduldeten empirisch erfasst. Es werden Kriterien für eine gute Praxis erhoben, die für Teilhabeprozesse geduldeter Menschen Erfolg versprechen.
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