Flucht und Freiheit
24.08.2017 esz Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
N. KohlheppWolfgang WeissgerberDie Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut. Das hat auch die Kasseler Staatsanwaltschaft so und ist nicht gegen eine umstrittene Aktion auf der Kunstschau documenta zum Thema Flüchtlinge vorgegangen. Das ist gut so. Gut finden musste man das Happening »Auschwitz on the beach«, das an diesem Wochenende geplant war und kurzfristig abgesagt wurde, aber nicht. Und man darf das auch laut sagen.
In ihrer Ankündigung setzten die Macher der Aktion Flüchtlinge mit den Opfern des Holocausts und das Salzwasser des Mittelmeers mit dem Gaskammer-Gift Zyklon B gleich. Den Europäern warfen sie vor, sie richteten Konzentrationslager ein und bezahlten »Gauleiter« in Libyen, Ägypten und der Türkei dafür, die »Drecksarbeit« an ihren Küsten zu erledigen.
Das ist natürlich dummes Zeug. Aber vielleicht ist derart plumpe Agitation doch notwendig, um den Blick dafür zu öffnen, was vor unserer Haustür eigentlich geschieht. Denn das Thema Flüchtlinge ist im öffentlichen Diskurs inzwischen weitgehend reduziert auf die Angst vor Überfremdung und Kriminalität.
Wir Deutschen fordern zwar – durchaus zu Recht – die Solidarität unserer europäischen Nachbarn bei der Verteilung von Flüchtlingen. Aber zugleich haben wir es geschafft, uns weitere Flüchtlinge zu Lasten anderer Länder vom Leib zu halten. Vor allem Italiener, aber auch Griechen und Spanier sind die Gelackmeierten. Zwar regen wir Deutschen uns über die ungarischen Polizeistaat-Methoden im Umgang mit Flüchtlingen auf. Doch zufrieden stellen wir zugleich fest, dass von dort keine Flüchtlinge mehr zu uns kommen. Am türkischen Präsidenten Erdoğan gibt es ebenfalls allerhand zu kritisieren. Doch dank eines zweifelhaften Abkommens hält auch er jede Menge Elendsgestalten für uns auf Abstand.
Damit ist das Problem aber keineswegs gelöst. Die Fluchtursachen bestehen schließlich weiter: Krieg in Syrien, Afghanistan, Jemen; Staatserosion in Somalia und Libyen; Hunger und Armut in vielen Ländern Afrikas. Europäische Politik ist an einigen Krisen nicht ganz unbeteiligt. Ein Beitrag zu ihrer Lösung wäre im eigenen Interesse.
Menschen fliehen also weiter vor Not und Tod, sie schaffen es nur nicht mehr bis zu uns. Sie scheitern am Stacheldraht quer durch den Balkan und um die nordafrikanischen Exklaven Spaniens, sie scheitern an der türkischen Küstenwache. Seit der Katzensprung nach Griechenland erschwert und der Landweg nach Mitteleuropa versperrt ist, bleibt nur noch der gefahrvolle Seeweg von der Küste Nordafrikas zu den italienischen Inseln oder über die strömungsreiche Straße von Gibraltar, selbst die Überfahrt zu den Kanaren wagen die Verzweifelten.
Die Abschottung Europas treibt die Entwurzelten in die Arme gewissenloser Schlepper, die sie für horrende Summen in alte Kähne pferchen und auf See ihrem Schicksal überlassen. Doch wir sind abgestumpft. Ertrunkene Flüchtlinge schaffen es nur noch in die Tagesschau, wenn ihre Zahl dreistellig ist oder wenigstens im hohen zweistelligen Bereich liegt.
Die europäische Politik aber steckt in einem Dilemma. Rettungsaktionen von europäischen Marineverbänden oder internationalen Hilfsorganisationen sind einerseits ein Gebot der Menschlichkeit, gehören andererseits zum Kalkül der Schlepper. Was in der Türkei bereits ganz gut funktioniert, praktiziert daher nun auch die Küstenwache Libyens: Flüchtlingsboote schon am Auslaufen hindern. Sie fällt dabei aber auch immer öfter den internationalen Seenotrettern in den Arm – ein Unding.
Über die Begrifflichkeit der abgesagten documenta-Aktion lässt sich streiten. Über die Mechanismen, die ihre Urheber beschreiben, dagegen nicht: Europa sorgt mit Hilfe Dritter dafür, dass Menschen, die nicht zu verlieren haben als das nackte Leben, uns nicht länger belästigen.
Von Wolfgang Weissgerber
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