Menümobile menu

Reportage aus Lampedusa

Lasst uns Menschen schützen, nicht Grenzen

Diakonie RWL/Karin Wieder„Schützen Sie Menschen, nicht Grenzen!“, steht auf der Mauer am Favaloro-Dock von Lampedusa. Ein Aufruf an die italienische und europäische Politik.

Die evangelischen Kirchen in NRW sind mit elf Landtagsabgeordneten nach Lampedusa und Rom geflogen, um sich vor Ort ein Bild zu machen, wie die Europäische Union an ihren Außengrenzen mit geflüchteten Menschen umgeht. Diakonie RWL-Referentin Karin Wieder war mit dabei. In dieser Reportage nimmt sie uns mit in eine Region, in der die Zivilgesellschaft versucht, das menschliche Antlitz Europas zu bewahren.

Diakonie RWL/Karin WiederDie Reisegruppe im Gespräch mit Alessandra Trotta von der Waldenser Kirche Italien.

Von Karin Wieder, Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. - Diakonie RWL

„Schützen Sie Menschen, nicht Grenzen!“, steht auf der Mauer. Ein Aufruf an die italienische und europäische Politik. Am Favaloro-Dock von Lampedusa haben sich diesem Aufruf die evangelische Hilfsorganisation Mediterranean Hope und Nonnen verschiedener katholischer Orden verschrieben. Sie sind da, wenn ein Flüchtlingsboot eintrifft, auch nachts, um die Menschen willkommen zu heißen, ein freundliches, zugewandtes Gesicht zu zeigen, eine Wärmefolie umzulegen, Wasser zu reichen und menschliche Wärme. Von ihren „Geschwistern“ sprechen die Schwestern, wenn sie von den Ankommenden erzählen und es interessiert sie nicht, ob es Christinnen, Muslime oder Hindi sind.

2023 kamen hier 103.000 Menschen an, im Jahr 2024 waren es nur noch 41.000 Menschen. 85 Prozent derjenigen, die in Italien eintreffen, kommen über diese Insel, die kleiner ist als Norderney und auf der nur 6.500 Einwohner leben. Das bringt die Insel an ihre Grenzen. Abläufe mussten geschaffen werden.

Es gibt nur 600 Betten

Vom Dock aus werden nun die Eintreffenden in Bussen in die Erstaufnahme, den sogenannten Hotspot gebracht. Dort findet eine erste Registrierung statt, sie erhalten neue Kleidung und weitere Utensilien des täglichen Bedarfs, medizinische Hilfe und eine kurze Information. Spätestens nach 48 Stunden geht es weiter auf eine Fährfahrt nach Sizilien, wo das Asylverfahren beginnt und die Reise noch nicht endet. Im Hotspot sind die verschiedensten Organisationen tätig. Die einen regeln die Abläufe, wie das Rote Kreuz, andere sind für die Umsetzung des Europäischen Asylrechts zuständig, wie die European Union Agency for Asylum (EUAA), andere für den Schutz der Menschen, wie Save-the-Children und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR).

Schlafplätze gibt es für 600 Menschen. Wenn sie nicht ausreichen, können bei gutem Wetter auch Feldbetten in den Hof gestellt werden. Die Telefonzellen sind kaputt, zum Ausruhen gibt es Sitzbänke aus Beton – aber selbst diese reichen natürlich nicht aus für so viele Menschen.

Täglich ertrinken Menschen im Meer

Täglich, so schätzt die Küstenwache, die sich an den Suchaktionen Vermisster beteiligt, gehen um die 40 Menschen im Mittelmeer verloren, die sich in mal mehr mal weniger seetauglichen Booten von den Küsten Tunesiens und Libyens auf den Weg nach Europa machen. Gezählt werden nur die Personen, die als vermisst gemeldet werden. Und so verschwinden Tausende Menschen, ohne dass ihre Angehörigen wissen, was aus ihnen geworden ist. Und während wir uns morgens mit der Küstenwache und am Nachmittag dieses Tages mit einem Aktivisten von Seabird, der zivilen Luftaufklärung von Sea Watch, treffen, wird berichtet, dass man ein Boot mit 35 Personen sucht, das tags zuvor einen Notruf über das Alarmphone abgesetzt hatte. Doch im Laufe des Tages wird klar, dass diese Menschen bereits verloren sind. Sie können nicht gefunden werden. In der Nacht waren die Wellen im Mittelmeer gut zwei Meter hoch.

Die Toten, die zum Teil von den Booten mitgeführt werden, weil sie zum Beispiel in den geschlossenen Booten aus Libyen ersticken oder durch die Abgase, die ins Boot eindringen, an Kohlenmonoxydvergiftung sterben, oder die das Meer an den Küsten der Urlaubsinsel anspült, wurden lange auf dem Friedhof der Insel beerdigt. Lange Zeit ohne besondere Hinweise oder Schmuck, Name der Person unbekannt. Die kunstvollen Grabtafeln, die sich jetzt auf den Gräbern finden, wurden von Organisationen auf der Insel ermöglicht. Ein Künstler gestaltet sie. Die Feder steht für die Seele der Toten. Auf der Mauer eines Gruppengrabes wird mit jedem bekannten Schiffbruch der Mauer eine weitere Feder mit dem Datum hinzugefügt. Die Toten sollen nicht vergessen sein. Und so forschen Zivilorganisationen nach den Namen der Beerdigten, denn selten reisen Menschen allein. Sie sind unterwegs mit Bruder, Freund, Schwester oder jemandem aus ihrem Dorf. So lässt sich manches Mal herausfinden, wer die Überfahrt nicht geschafft hat.

Zu viele Tote für die kleine Insel

Mit der Zeit waren es zu viele Tote für die kleine Insel und ihren Inselfriedhof. Nun werden die Toten registriert, wenn möglich fotografiert, und dann nach Sizilien gebracht, wo sie ihre Ruhe finden.

„Sag es meinen Vorfahren und sag es Mama wie wunderbar wird es in Lampedusa sein. Oh, sag es meinen Vorfahren, sag es Moussa. Ich werde glückliche Tage auf Lampedusa verbringen. Und selbst wenn das Wetter schlecht wird, auch wenn der Wind uns trifft, ich werde bald ankommen. Auch wenn der Wind uns trifft […] Ich habe so sehr von diesem Ort geträumt.“ So singt der französische Chansonier Christophe Maé in seinem Lied Lampedusa, in dem er die Trennung von Familie und Freunden und die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer beschreibt.

Noch einmal Christophe Maé:
„Ich gehe für dich, meine Liebe,
für Mama und für meine Brüder.
Es ist ein einladendes Land dort.
Ich werde bald an der Schwelle stehen,
Oh, da drüben ist Europa.
Aber auf diesem Meer von Riffen
unter diesem Trauermond
schöpfen wir, schöpfen wir Wasser.“

Die evangelischen Waldenser helfen mit

Sprung nach Rom. Wir treffen Alessandra Trotta von der Waldenserkirche Italiens. Als „Moderatorin“ steht sie dem siebenköpfigen Leitungsgremium der Waldenser vor. Sie berichtet aus ihren Gesprächen mit geflüchteten Menschen: „Ihr werdet uns nicht stoppen können. Solange unserer Situation zu Hause so ist, ist der Weg über das Mittelmeer unsere Chance…“, sagen sie. Die stete Todesgefahr aufgrund von Bürgerkrieg, Krieg, Unterdrückung, Katastrophen und Hunger lässt Menschen aufbrechen, trotz all der Risiken, die der gesamte Weg mit sich bringt.

Die Waldenserkirche ist Teil der FCEI, der Föderation Evangelischer Kirchen in Italien, aus der Mediterranean Hope nach einem Schiffbruch 2013 hervorging. In seinem Engagement für Geflüchtete arbeitet Mediterranean Hope eng mit der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio und der Caritas Italien zusammen. Finanziert werden sie unter anderem über die Abgaben „Otto per Mille“, die jede:r italienische Bürger:in in ein Projekt einzahlen muss. Mediterranean Hope erfährt viel Unterstützung. Neben ihrer Präsenz auf Lampedusa und anderen Orten engagieren sie sich seit Jahren für „Humanitäre Korridore“, die eine legale Aufnahme von Menschen in Italien ermöglichen. 1.000 Personen pro Jahr sollen es sein, die auf sicheren Wegen Italien erreichen und dann das Asylverfahren dort durchlaufen. Dieses Programm wird in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Abteilung für Humanitäre Aufnahme des italienischen Innenministeriums durchgeführt.

Der Kampf der Rechten gegen die Europäische Justiz

Erstaunlich ist, dass die Regierung von Giorgia Meloni dieses Programm mitträgt, während sie gleichzeitig eine flüchtlingsfeindliche Politik gegen Geflüchtete propagiert, die sich auf den Weg nach Europa und Italien machen. Sie versucht, die Pläne des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die im vergangenen Jahr beschlossen wurden und erst bis 2026 umgesetzt werden müssen, jetzt schon zu realisieren. Der Vizebotschafter in der Deutschen Botschaft schildert ihre Bemühungen, Geflüchtete in ein sogenanntes sicheres Drittland, aktuell Albanien, zu bringen. Bislang sind diese Versuche fehlgeschlagen. Die Männer, die auf Marineschiffen in Flüchtlingshaft nach Albanien gebracht wurden, mussten nach Italien zurückgeführt werden, da italienische Gerichte dieses Vorhaben mehrfach als illegal stoppten. Nun liegt der Streit beim Europäischen Gerichtshof und die italienische Regierung erwartet einen juristischen Sieg in diesem Konflikt, so der Vizebotschafter.

Um die Zahl der Migrant:innen, die Italien erreichen könnten, zu verringern, schließt Italien Abkommen mit Tunesien, so wie es die Regierung zuvor im Italien-Libyen-Deal tat. Tunesien verhindert die Weiterreise der Migrant:innen nach Europa und erhält gleichzeitig umfassende ökonomische Unterstützung für unterschiedliche Bereiche. Genauso hat es die EU gemacht. Seitdem sind die Überfahrten nach Italien um 60 Prozent zurückgegangen und so kamen 2024 „nur“ 41.000 Geflüchtete auf Lampedusa an. Doch wen interessiert die Situation der Menschen in den Lagern Tunesiens? Die Menschen sind dort auf sich allein gestellt. Der Präsident beschimpft die Migrant:innen und macht sie für die Probleme des Landes verantwortlich.

Solche Muster kennen wir auch in Deutschland und Europa.

Diese Seite:Download PDFDrucken

to top