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Kommentar FIAM

Mehr Abschiebungen zur Entlastung des Wohnungsmarktes?

Itstock:linephoto

Der Debatte um die „Brandbriefe“, die mit Forderungen nach Abschiebungen und der Begrenzung von Fluchtbewegungen einhergehen und diese in den Kontext zunehmender Wohnungsnot stellen, setzt die Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration (FIAM) der Diakonie Hessen einen Leserbrief entgegen: Statt Stimmungsmache gegen Geflüchtete müssten die Ursachen des Problems erfasst werden, so sei das Dilemma der Kommunen vor allem Ausdruck einer seit Jahrzehnten vernachlässigten Wohnungsbaupolitik und Unterfinanzierung der Bildung im ganzen Land.

2022 ist tatsächlich eine große Zahl Geflüchteter nach Deutschland gekommen, vor allem aus der Ukraine, aber auch aus anderen Kriegs- und Krisengebieten wie Syrien und Afghanistan. Unterbringung, soziale Betreuung und Integration dieser Menschen sind eine enorme gesellschaftliche Aufgabe, die vor allem vor Ort erbracht werden muss. Dass Landkreise hier an ihre Grenzen stoßen, ist nachvollziehbar – insbesondere vor dem Hintergrund des ohnehin schon akuten Mangels an bezahlbarem Wohnraum, fehlenden Lehrkräften und zu wenigen Sozialarbeiter*innen. Dass Geflüchtete jetzt wieder in Containern und Zeltlagern (Kreis Bergstrasse) untergebracht werden, ist ebenso wenig hinnehmbar wie die immer noch fehlenden verbindlichen Unterbringungsstandards für Geflüchtete in Hessen. Soweit ist die Problemanzeige des Brandbriefs aus dem Main-Taunus Kreis und anderen Kommunen im Land ein dringender und notwendiger Weckruf.

Der Ruf nach mehr Abschiebungen ist nicht neu; es ist aber auch hinlänglich bekannt, dass sie in der Praxis aus den unterschiedlichsten Gründen immer wieder scheitern. Doch selbst wenn es gelänge, alle hier abgelehnten Schutzsuchenden in ihre Heimat (also nach Afghanistan, Syrien und andere Kriegs- und Krisenländer) zurückzuführen, würde das die Gesamtzahl der 2022 nach Deutschland eingereisten Flüchtlingen um nicht einmal 7% reduzieren. Damit würde man die Kommunen und Kreise kaum entlasten.

Die Forderung des Briefes nach einer Beschränkung von Zuwanderung und konsequenter Abschiebung taugt daher wenig zur Lösung des Problems. Ein Blick auf die Zahlen macht das deutlich: Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Kriegs Russlands in der Ukraine sind über 1 Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zu uns gekommen, denen Deutschland auch ohne Asylverfahren hier vorübergehenden Schutz gewährt hat und die wir aus guten Gründen gar nicht abschieben wollen. Diese Gruppe macht über 80% der Flüchtlinge des letzten Jahres in Deutschland aus. Dazu kommen weitere 192.000 Menschen, die 2022 aus Ländern wie Syrien, Afghanistan und der Türkei eingereist sind und hier einen Asylantrag gestellt haben. Die bereinigte Schutzquote dieser Gruppe lag 2022 über 70%. Dazu kommen noch alle diejenigen, die auf dem Klageweg gegen eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen (besseren) Schutzstatus zugesprochen bekommen. In fast jeder zweiten Klage gegen einen BAMF-Bescheid obsiegten die Kläger*innen im vergangenen Jahr mindestens teilweise. Das heißt, dass über 2/3 der Asylantragsteller, über deren Schutzgesuch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im letzten Jahr inhaltlich entschieden hat, für Abschiebungen ebenfalls nicht in Frage kommen.

Das Dilemma der Kommunen ist vor allem Ausdruck einer seit Jahrzehnten vernachlässigten Wohnungsbaupolitik und Unterfinanzierung der Bildung im ganzen Land. Viele Plätze in den Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete sind zunehmend mit Menschen belegt, die längst einen Schutz erhalten haben, aber immer noch keinen eigenen Wohnraum finden konnten. Manche schon seit 2015. Das limitiert nicht nur die Aufnahmekapazitäten für neue Flüchtlinge vor Ort, sondern es erschwert zudem die erfolgreiche Integration der dort Untergebrachten massiv. Wer trotz Anerkennung auch nach Jahren noch in Mehrbettzimmern lebt, ohne Rückzugsräume, ohne einen Ort wo Kinder in Ruhe Hausaufgaben erledigen können, der kämpft mit erheblichen Integrationshindernissen.

Zudem verhindert die Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge, sich außerhalb des ihnen zugewiesenen Landkreises Wohnraum zu suchen. Wer also das Pech hat, z.B. dem Main-Taunus-Kreis mit einer besonders angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt zugewiesen zu werden, und dort Sozialleistungen erhält, der dürfte gar nicht wegziehen, selbst wenn er oder sie andernorts eine bezahlbare Wohnung gefunden hat. Die Wohnsitzauflage wurde einst mit dem Argument eingeführt, sie fördere Integration. Inzwischen ist klar, dass sie Integration in vielen Fällen eher behindert.

Der Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine hat gezeigt, dass es auch anders geht. Sie haben weitgehend Bewegungsfreiheit in Deutschland und der EU, und sie müssen nicht, wie alle anderen Geflüchteten, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Sammelunterkünften leben. Eine große Zahl von ihnen ist privat untergekommen, bei Freunden, Bekannten oder anderen hilfsbereiten Menschen. Das hat geholfen, die Unterbringungssituation deutlich zu entlasten; es fördert frühe Integration und es hilft in vielen Fällen, Retraumatisierung zu verhindern. Statt weiter an der Ungleichbehandlung von Geflüchteten festzuhalten, könnten wir vom freizügigeren Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine viel für die Entlastung von Kommunen und für schnellere Integration lernen.

Ja, Kommunen und Landkreise brauchen Unterstützung: Seitens des Landes, des Bundes und auch der Zivilgesellschaft. Die Forderung nach mehr Abschiebungen wird sie aber nicht entlasten. Was sie brauchen, ist vor allem eins: Mehr bezahlbaren Wohnraum, und das nicht nur für Geflüchtete, sondern für alle Menschen! Nicht zuletzt auch für die Fachkräfte, die wir so dringend gewinnen wollen, vorausgesetzt die Ausländerbehörden vergeben irgendwann mal wieder Termine. Aber das ist ein anderes Thema …

Was wir für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt hingegen gewiss nicht brauchen, ist noch mehr Stimmungsmache gegen Geflüchtete. Für den Mangel an Wohnungen, Lehrern, und Sozialarbeiter*innen in Deutschland können sie jedenfalls nichts. Menschenrechte und auch das Grundgesetz gelten für alle in Deutschland lebenden Menschen - nicht nur für deutsche Staatsbürger*innen.

Michael Büsgen, Referent der Diakonie Hessen

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