Menümobile menu

Flucht und Migration

„Wir brauchen einen Perspektivenwechsel“

Medienhaus EKHN

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Die Hoffnungen auf einen schnellen Frieden schwinden. Auch bei uns in Hessen und Rheinland-Pfalz finden geflohene Ukrainer*innen Zuflucht. Andreas Lipsch, Leiter der Abteilung Flucht bei der Diakone Hessen und Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, zieht eine Zwischenbilanz.

Interview mit Andreas Lipsch

Anders als bei anderen Schutzsuchenden wurde bei der Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine bisher nicht über irgendwelche Obergrenzen diskutiert. Woran liegt das?

Es war die Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die zu Beginn des Krieges erklärte, Flüchtlinge aus der Ukraine unabhängig von ihrer Nationalität in Deutschland aufnehmen zu wollen. Eine Obergrenze werde es dabei nicht geben, betonte sie damals. Und das ist bis heute seitens der Bundesregierung auch nicht infrage gestellt worden. Das Stichwort dazu war und ist: Solidarität. Im Fall der Ukraine hat sich die deutsche und die europäische Flüchtlingspolitik als Beitrag zur internationalen Solidarität mit verfolgten Menschen verstanden. Ich finde das vorbildlich. Vorbildlich übrigens auch im Blick auf die, die aus anderen Weltgegenden kommen und bei uns Schutz suchen.

Wie viele Geflüchtete sind mittlerweile bei uns angekommen?

Mittlerweile sind mehr als acht Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Knapp fünf Millionen haben europaweit Schutz gefunden, mehr als eine Million davon in Deutschland. In Hessen sind es aktuell 81.000, in Rheinland-Pfalz knapp 45.000.

Und kehren eigentlich auch Menschen zurück?
Ja, es kehren auch Menschen zurück. Das versuchen sogar sehr viele, laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bisher mehr als 5,5 Millionen. Aber es dürfte ein Kommen und Gehen sein, je nach Kriegs-, Zerstörungs- und Versorgungslage. Den Wunsch zurückzukehren hegen sicher viele Ukraineflüchtlinge. Je länger der Krieg dauert, umso wahrscheinlicher wird allerdings, dass das kurzfristig kaum möglich ist. Insofern sollten alle damit rechnen, dass viele Geflüchtete dauerhaft in den Aufnahmeländern bleiben und dort auch Perspektiven entwickeln werden.

Wie wurden die Menschen hier aufgenommen? Wie ist es den Ukrainer*innen bei uns ergangen?

Ohne die Probleme, die mit der Aufnahme so vieler Menschen natürlich verbunden sind, kleinreden zu wollen, würde ich sagen: Ziemlich gut. Und das hat vor allem mit den Aufnahmebedingungen zu tun, die bei den Flüchtlingen aus der Ukraine ganz anders sind als bei anderen: Sie müssen kein langes Asylverfahren durchlaufen, haben von Anfang an Bewegungsfreiheit in Deutschland und der EU, sie müssen nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Sammelunterkünften leben und haben barrierefreien Zugang zu Sozialleistungen, Ausbildung und Arbeitsmarkt.

Eine große Zahl von ihnen ist zunächst privat untergekommen, bei Freunden, Bekannten oder anderen hilfsbereiten Menschen. Das hat geholfen, die Unterbringungssituation deutlich zu entlasten. Und es hat eine frühe Integration möglich gemacht.

Wie sieht die Wohnsituation der Ukrainer*innen heute, ein Jahr später, aus? Was hat sich verändert? Wie viele konnten dauerhaft Wohnungen finden?

Nach einer bundesweiten Befragung lebten Ende 2022 74 Prozent in privaten Wohnungen und Häusern, weitere 17 Prozent in Hotels und Pensionen und neun Prozent in Gemeinschaftsunterkünften. 25 Prozent leben bei bereits in Deutschland wohnenden Familienangehörigen, Freunden und Bekannten und 15 Prozent bei anderen Personen.

Wenn wir die eben genannten Zahlen anschauen und dann einblenden, wie die Unterbringungssituation anderer Geflüchteter aussieht, dann lässt sich gut ermessen, wie sehr Betroffene und die ganze Gesellschaft von einem möglichst freizügigen Umgang mit Flüchtlingen profitieren könnten. Wenn die, die heute über Monate und teilweise Jahre hinweg in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften festgehalten werden und denen eine sogenannte Wohnsitzauflage untersagt, sich selber Wohnraum zu suchen, wenn all diese anderen Flüchtlinge dieselben Rechte bekämen wie ukrainische Flüchtlinge mit vorübergehendem Schutz, dann stünden wir, was die Unterbringungssituation und die Integration angeht, wohl deutlich besser da.

Allerdings könnte auch damit nicht gelöst werden, was in den vergangenen Jahren politisch versäumt worden ist. Das ist zum einen der flächendeckende und dauerhafte Aufbau von Aufnahmekapazitäten, die den internationalen Migrations- und Fluchtbewegungen angemessen sind. Wir können doch nicht jedes Mal von Neuem überrascht darüber sein, dass es Migration gibt. Im Übrigen wünschen wir sie uns angesichts des Fachkräftemangels neuerdings ja sogar sehnlichst herbei.

Das andere riesige politische Versäumnis betrifft den Wohnungsbau. Wir brauchen dringend viel mehr bezahlbaren Wohnraum, und das nicht etwa nur für Geflüchtete, sondern für alle Menschen. Auch hier, gerade hier, wäre ein „Wumms“ dringend notwendig.

Sie sagten, dass viele Ukraineflüchtlinge vermutlich länger und vielleicht dauerhaft hierbleiben werden. Welche Herausforderungen sind damit verbunden?

Ich würde gerne zuerst die Chancen nennen, die damit verbunden sind. Schon jetzt, ein Jahr nach dem Beginn des Krieges, geht die Bundesagentur für Arbeit von einer deutlichen Entlastung für den deutschen Arbeitsmarkt durch Flüchtlinge aus der Ukraine aus. Schon jetzt sind rund 65.000 Ukrainerinnen und Ukrainer mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt als vor dem Krieg. Und diese Zahl wird nochmal deutlich steigen, wenn viele Frauen und Männer die Integrations- und Berufssprachkurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge absolviert haben.

Hinzu kommen nochmal 21.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Minijobs. Sie alle trügen zur Bekämpfung des Personalmangels der deutschen Wirtschaft bei, sagt die Bundesagentur für Arbeit und betont, dass der deutsche Arbeitsmarkt aufnahmefähig sei. Und das gilt natürlich nicht nur im Blick auf Ukrainer:innen, sondern auch für alle anderen Geflüchteten.

Was wir dringend brauchen, ist ein Perspektivenwechsel. Es gilt, Migration – ja, auch die Fluchtmigration - als Chance zu begreifen. Und das hieße, die Integration aller vom ersten Tag an zu fördern, Freizügigkeit zu gewähren, Spurwechsel zwischen Asyl und Arbeitsmarkt zu organisieren und vieles andere mehr.

Damit sind dann allerdings auch große Herausforderungen verbunden. Weil auch in der Integrationspolitik dringend Strukturen auf- und ausgebaut werden müssen. Menschen dürfen nicht wie heute bis zu einem Jahr auf den Besuch eines Integrationskurses warten müssen. Unser gesamtes Bildungssystem muss migrationskompatibel und vielfaltsfähig gemacht werden. Und es braucht eine enorme Qualifizierungsoffensive, für alle Potentiale, die im Inland zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Viele geflohene Ukrainer*innen haben Angehörige und ihr Zuhause verloren, traumatische Erlebnisse liegen hinter ihnen. Wie sieht es mit ihrer psychologischen Betreuung aus?

Unter Traumatisierungen leiden nicht nur die Flüchtlinge aus der Ukraine, sondern die große Mehrheit aller Schutzsuchenden. Laut einer Studie der AOK haben drei Viertel der in Deutschland lebenden Geflüchteten unterschiedliche Formen von Gewalt erfahren, viele von ihnen sind sogar mehrfach traumatisiert. Für ihre Erstversorgung haben die Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge (PSZ) eine wichtige Funktion bei der Diagnostik und Abklärung weiteren Behandlungsbedarfs. Sie arbeiten mit multiprofessionellen Teams und ganzheitlichen Angeboten und schließen damit eine Lücke in der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter. Das Problem ist, dass es solche Zentren nur vereinzelt gibt und ihre Finanzierung meist projektgebunden ist, was eine langfristige und sinnvolle Versorgungsplanung schwierig macht.

Unter dem Titel „Schutzbedürftig in Hessen“ haben wir im vergangenen Jahr zusammen mit Vertreter:innen aus der medizinischen Praxis, aus psychiatrischen Krankenhäusern, anderen Liga-Verbänden sowie der psychosozialen Versorgung Geflüchteter einen Fachtag dazu veranstaltet. In einem gemeinsamen Positionspapier haben wir die aktuelle Lage genauer beschrieben und konkrete politische Forderungen formuliert.

Diese Seite:Download PDFDrucken

to top