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Kirchenpräsident im Berliner Dom

Vom Ahrtal bis Afghanistan: Worauf in Krisen hoffen?

EKHN/NeetzJung predigt auf der KanzelKirchenpräsident Dr. Dr. h.c. Volker Jung

Eine Krise jagt derzeit die andere. Menschen fühlen sich ohnmächtig zwischen Ahrtal und Afghanistan. Worauf können sie sich noch verlassen? Der Frage ging jetzt Hessen-Nassaus Kirchenpräsident Volker Jung im Berliner Dom nach.

Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hat sich am Sonntag (22. August) bei einem Gottesdienst im Berliner Dom besorgt über die aktuelle Weltlage gezeigt und auf die besondere Rolle der Hoffnung auf die Nähe Gottes und der Hilfe der Menschen füreinander hingewiesen. Viele Menschen würden angesichts der aussichtlosen politischen Situation in Afghanistan, den Flutkatastrophen in Deutschland oder dem schweren Erdbeben in Haiti ein Gefühl der Machtlosigkeit entwickeln. „Manchmal spüren wir sehr, wie ohnmächtig wir sind – in all dem, was in dieser Welt geschieht. Manchmal spüren wir, wie es uns die Sprache verschlägt. Manchmal verschließen wir auch Augen und Ohren und Herzen“, so Jung.

Für andere einsetzen 

Gleichzeitig hob Jung die Bedeutung von Menschen hervor, die sich in diesen Situationen für andere einsetzen. Als Beispiel nannte er die „vielen Helferinnen und Helfer in den Flutgebieten, die anpacken, um Schlamm und Trümmer wegzuräumen. Die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan waren, und jetzt Kontakte halten und in Netzwerken Unterstützung organisieren für die Ortskräfte, mit denen sie gearbeitet haben und andere. Die Menschen, die da sind, wenn Bekannte und Freundinnen sie brauchen. Und viele, viele mehr, die sich von der Not anderer berühren lassen und Geld spenden oder auf ihre Weise Hilfe leisten.“

Ohren, Augen und Herzen öffnen

Nach Ansicht Jungs brauchen Menschen in bedrückenden Situationen eine „Nähe, die Ohren, Augen und Herzen öffnet“. In der Bibel sei die Heilungsgeschichte eines Gehörlosen aus dem Markusevangelium (Markus 7,31-37) dafür ein Paradebeispiel. Hier stelle Jesus eine besondere Nähe zu Menschen her, die Ohnmachtserfahrungen machten. Jung: „Wenn ich erschrocken und verstört bin über das, was Menschen einander antun können. Wenn ich merke, wie verwundbar Menschen sind. Wenn ich merke, dass ich ratlos bin und mir die Worte fehlen. Wie gut wäre es dann, wenn Jesus bei den Menschen wäre, die Leid erfahren. Wie gut wäre es dann, wenn Jesus mich auf die Seite nimmt und ein erlösendes, befreiendes Wort zu mir spricht. Dann berühren uns Worte, dass das nicht alles sein kann. Dann ist es gut, wenn wir uns aufmachen.“

Wortlaut

Predigt Kirchenpräsident Volker Jung
Berliner Dom, 12. So. n. Trinitatis, 22.08.21

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

Liebe Gemeinde,

„Wir und unsere Familien leben nicht sicher. Wir haben Angst. Die Kinder fragen was geschieht. Bitte, bitte helft uns.“ Das hat eine Frau aus Afghanistan an eine Journalistin geschrieben. Irgendwann war die Nachricht auf meinem Smartphone. Ich lese das und spüre Wut und Ohnmacht.

Kurze Zeit später telefoniere ich mit einer guten Bekannten, die mir von ihrer schweren Erkrankung erzählt. Ich höre ihr zu, rede mit ihr und habe das Gefühl, so wenig für sie tun zu können.

Es sind zurzeit so viele Situationen, in denen ich mich machtlos fühle: Erdbeben und Flut in Haiti, Flutkatastrophen in Deutschland, der Türkei, Japan und anderswo. Verbunden damit sind Gedanken und Fragen, ob es noch gelingt, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen.

Wir hören heute Morgen eine Geschichte, in der Menschen die Nähe von Jesus suchen. Sie spüren, dass sie selbst nicht viel tun können. Aber sie sehen eine Chance, haben eine Hoffnung und werden nicht enttäuscht.

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden. Markus 7,31-37

Gott schenke uns ein Wort für unser Herz und ein Herz für dein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde,

wer taub war und deshalb nicht richtig reden konnte, konnte damals nicht auf Hilfe hoffen. Kaum medizinische Möglichkeiten. Keine Implantate – so wie heute. Oft war ein Mensch, der dieses Schicksal hatte, gar nicht Teil der Gemeinschaft. Bis in unsere Zeit wurden hörgeschädigte und gehörlose Menschen als „Taubstumme“ abgestempelt und ausgegrenzt. Als ob Hörgeschädigte nicht durch Sprachtraining und Gebärdensprache gut kommunizieren könnten. In unserer Geschichte gibt es andere, denen dieser Mensch nicht egal ist. Der gehörlose Mensch hört nichts. Aber die anderen hören etwas. Sie hören, dass Jesus Menschen heilen kann. In der Nähe von Jesus erfahren Menschen Besonderes. Manche werden gesund. Das ist der Ruf, der Jesus vorauseilt. Sie machen sich auf den Weg und sie werden nicht enttäuscht. Der, den sie hinbringen, kann plötzlich hören und verständlich reden.

Ein Wunder. So haben es die Menschen damals erlebt. Als aufgeklärte und rational denkende Menschen sind wir schnell geneigt, auf Abstand zu gehen. Vielleicht suchen wir nach Erklärungen. Manche sagen auch: Wunder waren etwas für die Zeit der direkten Begegnung mit Jesus. Da gab es sie offenbar wirklich. Menschen erleben, dass durch Jesus Wunderbares geschieht – auch Heilung, die niemand für möglich gehalten hat. Zugleich stellt die Geschichte aber selbst ein Warnschild auf: Achtung, hier geht es eigentlich noch um etwas anderes. Glaube ist zwar auch der Glaube, dass durch Gott Wunderbares geschehen kann. Aber daran festhalten kann sich der Glaube nicht. Jesus jedenfalls warnt davor, ihn einfach als Wundertäter zu verehren. Weitererzählen sollen sie es nicht. Darum zu bitten, dass etwas nicht weitergesagt wird, ist oft der beste Weg, genau das zu bewirken. Das jedenfalls war damals nicht anders als heute. Sei´s drum. Es geht offenbar noch um etwas anderes. Aber worum geht es dann?

Vor etlichen Jahren hat eine Pfarrerin, die selbst gehörlos ist, in einer Gehörlosengemeinde über diese Geschichte gepredigt. Sie hat dabei folgendes gesagt:

„Nur leider hat die Geschichte für mich einen kleinen Haken. Der Taubstumme da, im Markusevangelium, kann wieder hören. Wir nicht! Hören zu können – ein Wunder? Das Heil, auf das wir alle hoffen? Eigentlich kann ich mir das gar nicht vorstellen. Ich bin wie ich bin, nämlich so, wie Gott mich geschaffen hat. Und ich glaube auch, dass Gott will, dass dieses Leben als Gehörlose mein Leben ist. Und das bedeutet: Alles, was die Taubheit mit sich bringt, gehört zu mir. Alles, die Gebärdensprache, die Gehörlosengemeinschaft, der komplizierte Alltag in einer hörenden Welt, die Grenzen der hörenden Welt, auf die ich täglich stoße.“ Sie sagt damit: Eigentlich will ich gar nicht mit dem Taubstummen tauschen. Dann fährt sie aber fort: „Und doch gibt es einen Punkt in der Geschichte, wo ich gerne in die Rolle des Taubstummen schlüpfen würde. Noch vor dem großen Wunder. Das Wunder ist nicht wichtig – viel wichtiger ist mir das Beiseitenehmen. Und ich stelle mir gerne vor, wie es ist, von Jesus beiseite genommen zu werden und Gelegenheit zu haben, mit ihm in Ruhe zu sitzen und zu reden.“ Sie stellt sich dann vor, wie sie mit Jesus redet und spürt, von ihm verstanden zu werden und bei ihm geborgen zu sein.

Das ist für sie das Wunder im Wunder. Jesus nimmt einen Menschen zur Seite und ist ganz für diesen Menschen da.

So wie die gehörlose Pfarrerin haben Menschen diese Geschichte auch immer in einem weiteren Sinn verstanden. Dass ein Mensch geheilt wird, ist großartig. Aber es geht in der Geschichte nicht nur um körperliche Heilung. Wenig später sagt Jesus zu denen, die bei ihm sind: „Habt ihr ein erstarrtes Herz in euch? Habt ihr Augen und seht nicht und habt Ohren und hört nicht?“ Und er meint damit: Begreift ihr nicht, wer ich für euch bin? Begreift ihr nicht, wie Gott für euch da ist? Das brauchen Menschen offenbar immer wieder: die Nähe, die Ohren, Augen und Herzen öffnet.

Ich spüre, dass ich das brauche – vor allem dann, wenn ich Ohnmacht erlebe. Wenn ich erschrocken und verstört bin über das, was Menschen einander antun können. Wenn ich merke, wie verwundbar Menschen sind. Wenn ich merke, dass ich ratlos bin und mir die Worte fehlen. Wie gut wäre es dann, wenn Jesus bei den Menschen wäre, die Leid erfahren. Wie gut wäre es dann, wenn Jesus mich auf die Seite nimmt und ein erlösendes, befreiendes Wort zu mir spricht.

Unsere Geschichte erzählt von großer Nähe. Jesus nimmt den gehörlosen und stammelnden Menschen zur Seite. Er legt nicht einfach nur die Hand auf. Er legt die Finger in die Ohren, spuckt aus und berührt mit der Spucke die Zunge. Dabei schaut er auf zum Himmel, erbittet Gottes Kraft und Geist, und spricht das erlösende Wort: Hefata! Tu dich auf!

Das ist sehr fremd für unsere Ohren und unser Empfinden – zumal in dieser Pandemie-Zeit, wo Abstand und Hygiene so wichtig sind. Wo wir aber auch zugleich merken, wie sehr uns manchmal Nähe fehlt – auch körperliche Nähe und Berührung.

Sehr fremd ist natürlich die Sache mit der Spucke. Spucke als Heilmittel. Das war in der Antike nicht unüblich. Es hat aber auch irgendwie etwas Abstoßendes. Martin Luther hat das in einer Predigt über diesen Text aufgegriffen und auch gleich gedeutet, und zwar so: „Der Speichel ist Gottes Wort, das dem alten Adam ein ekelhaft Ding ist, aber wers kennt, der geht hin und preist und lobt Gott.“ Das ist sehr tiefsinnig. Der alte Adam ist der Mensch, der sagt: Ich will alles alleine bewältigen und in den Griff bekommen. Es ist der Teil in jedem Menschen, der es nicht ertragen kann, verwundbar, verletzlich, schwach zu sein – und auch immer wieder schuldig zu werden. Gottes Wort kommt von außen. Dass können Menschen, sich nicht selbst sagen. Es tröstet, es richtet auf, es heilt, es bringt zurecht. So wie in der Geschichte: „Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst und er redete richtig.“

Liebe Gemeinde, jetzt habe ich versucht, uns die Geschichte nahe zu bringen, indem ich unseren Blick auf den gehörlosen Menschen gerichtet habe. Der steht für das Leiden und die Heilung eines ganz konkreten Menschen. Dieser Mensch steht in der Geschichte des Glaubens aber auch dafür, wie sehr Menschen Gottes Nähe, Gottes Wort und Gottes Kraft brauchen. Sehr berührend kommt das übrigens in der katholischen Eucharistiefeier mit den Worten zum Ausdruck, die vor der Kommunion gebetet werden: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Vielleicht beten Sie die Worte auch, wenn Sie nachher Brot und Wein empfangen – so sie dies wollen – und darin die Gemeinschaft mit Christus und Gottes Nähe spüren.

Für sich selbst Gottes Nähe und sein Wort erbitten ist das eine. Aber es ist doch zu wenig – gerade, wenn wir erleben, was andere erleiden. Es ist zu wenig, wenn wir die Geschichte nur auf uns selbst beziehen. Deshalb ist es so wichtig, am Ende der Geschichte und am Ende dieser Predigt noch einmal auf den Anfang zu schauen.

Die Geschichte beginnt ja damit, dass Menschen etwas für einen anderen tun. Auch jenseits der Grenze Galiläas, im heidnischen Gebiet der zehn Städte, hatten Menschen von Jesus gehört. Davon lassen sie sich bewegen. Und sie bringen den gehörlosen und stammelnden Menschen zu Jesus. Ich greife nochmal auf Luther zurück. Der sagt über diese Menschen zwei Dinge: Zum einen haben sie von Jesus gehört „ein gut Geschrei, ein gut Gerücht“. Und sie haben „dem Gerücht gehorcht und sich tröstlich darauf verlassen; darum gehen sie hin und erwarten von ihm, was sie von ihm gehört haben.“ So fängt nach Luther Glauben an. Es geht darum, dass Menschen von Gott Gutes erwarten und hoffen – für sich und andere. Hier sogar zuerst für die anderen.

Und das Zweite, was er über diese Menschen sagt, ist dies: So wie diese Menschen für ihren gehörlosen Mitmenschen da sind, so könnt ihr füreinander da sein. Wörtlich: So können „wir alle in Christus Priester sein und priesterlich Amt füreinander ausrichten, vor Gott treten und einer für den andern bitten.“

Liebe Gemeinde,

ja, manchmal spüren wir sehr, wie ohnmächtig wir sind – in all dem, was in dieser Welt geschieht. Manchmal spüren wir, wie es uns die Sprache verschlägt. Manchmal verschließen wir auch Augen und Ohren und Herzen. Dann berühren uns Worte, dass das nicht alles sein kann. Dann ist es gut, wenn wir uns aufmachen.

Es gibt sie bis heute, die Menschen, die sich aufmachen. Die vielen Helferinnen und Helfer in den Flutgebieten, die Hilfe organisieren oder anpacken, um Schlamm und Trümmer wegzuräumen. Die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan waren, und jetzt Kontakte halten und in Netzwerken Unterstützung organisieren für die Ortskräfte, mit denen sie gearbeitet haben und andere. Die Menschen, die da sind, wenn Bekannte und Freundinnen sie brauchen. Und viele, viele mehr, die sich von der Not anderer berühren lassen und Geld spenden oder auf ihre Weise Hilfe leisten. Und diejenigen, die Gott um Jesu willen bitten – um Heilung und Hilfe. 

Gebe Gott, dass das „gute Gerücht“ von seiner Nähe und Menschenliebe unter uns nicht verstummt und dass es immer wieder Ohren und Herzen erreicht.

Und so bewahre der Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen

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