Bericht von der Fachtagung
Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz und in prekären Lebenslagen
Jenseits der regulären Gesundheitsversorgung? Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage zur Struktur von Gesundheitsversorgungseinrichtungen in Deutschland am 13.06.2024, Hochschulzentrum Fulda Transfer
Fachtagung des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule Fulda, dem Medinetz FrankfurtOffenbach und der Diakonie Hessen.
Nach einer Begrüßung durch Professor Ilker Ataç (Hochschule Fulda) im Namen der Veranstaltenden der Fachtagung folgte das erste Panel, das von Mirjam Schülle (Universität Kassel) moderiert wurde.
Panel 1: Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung – Eine Bestandsaufnahme
Dr. Katja Kajikhina (Robert-Koch-Institut) zeigte auf, dass es Lücken im nationalen Gesundheitsmonitoring in Bezug auf bestimmte Bevölkerungsgruppen wie z. B. Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Ein Problem besteht darin, dass es mit den derzeitigen Erhebungsinstrumenten nur unzureichend gelingt, Daten von Menschen mit Migrationsgeschichte einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund wurden im Projekt Improving Health Monitoring in Migrant Populations (IMIRA) die Erhebungsmethoden weiterentwickelt und in der Befragungsstudie GEDA Fokus angewendet. Durch ein mehrstufiges Erhebungsdesign und die Adressierung von Sprach- und Kommunikationsbarrieren konnte die Teilnahmequote von Menschen mit Migrationshintergrund erhöht werden. Um der Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland gerecht zu werden, sind mehrere Modi und differenzierte Analysen jenseits des unscharfen Indikators „Migrationshintergrund“ notwendig. In der ebenfalls vorgestellten POINT-Studie zu Infektionskrankheiten bei Drogenkonsumenten wurde ein hoher Anteil von Unversicherten deutlich. Der häufigste Behandlungsort stellt demnach die Notaufnahme in der Klinik dar, was in den meisten Fällen durch eine angemessene und frühzeitige Behandlung hätte verhindert werden können.
Janina Gach, Ärzte der Welt e. V.
Krank und ohne medizinische Versorgung in Deutschland
Im zweiten Kurzvortrag legt Janina Gach (Ärzte der Welt) dar, dass in den vier bundesweiten Anlaufstellen der NGO Ärzte der Welt in Deutschland im Jahr 2022 über 2300 Patient*innen behandelt wurden. Davon lebten fast alle in finanzieller Armut und 88 % ohne Krankenversicherungsschutz. Weitere Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung sind der Aufenthaltsstatus, Sprachbarrieren und Diskriminierungserfahrungen. Die häufigsten Krankheiten bei Erwachsenen sind chronische Erkrankungen. Schwere Erkrankungen hätten durch eine frühere Anbindung an das Regelsystem in vielen Fällen vermieden werden können. Gach konstatiert dringenden politischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit in der Bundesrepublik.
Nele Wilk (Armut und Gesundheit in Deutschland) skizziert in ihrem Beitrag die vielfältigen Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung. Das duale bzw. dreigliedrige Krankenversicherungssystem in Deutschland macht eine erste Zuordnung der Patient*innen schwierig. Hinzu kommen verschiedene bürokratische Hürden. Hier nennt sie die fast ausschließlich deutschsprachige Behördenpraxis, teilweise erst nach langwierigem Nachfragen erhältliche Antragsunterlagen, sowie die hohe Hürde bei der Beantragung des Bürgergelds. Zudem führen die hohen Mindestbeitragssätze der Krankenkassen zu einer hohen Verschuldung der Betroffenen, weshalb diese sich in der Beratung teilweise bewusst gegen eine Reintegration in das Regelsystem entscheiden. Weitere Hürden ergeben sich aus dem Aufenthaltsstatus von Personen, beispielsweise EU-Bürger*innen aus Drittstaaten, Geflüchtete, sowie Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität.
Prof. Dr. Ilker Ataç, Hochschule Fulda
Jenseits der regulären Gesundheitsversorgung? Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage zur Struktur von Gesundheitsversorgungseinrichtungen in Deutschland
Prof. Ilker Ataç (Hochschule Fulda) stellte erste Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung vor. Ziel der gemeinsam mit Jonas Freudenberg durchgeführten Befragung was es, einen Überblick über das Angebot, die finanzielle und personelle Struktur sowie die Patient*innenzahlen der Einrichtungen zu erhalten. Insgesamt konnten Daten von 133 Einrichtungen erfasst werden. Etwa die Hälfte davon wurde im Rahmen der Befragung gewonnen, die übrigen Daten stammen aus einer Internet- und Medienrecherche. Deutlich werden starke geografische Unterschiede in der Abdeckung des Bundesgebiets. Auch historische Veränderungen in der Versorgungsstruktur werden sichtbar. So zeigt sich, dass seit den 2010ern vermehrt Clearingstellen und Praxen ohne Grenzen gegründet wurden. Etwa zwei Drittel der Einrichtungen bieten ambulante Versorgung vor Ort an, fast alle vermitteln an kooperierende Ärzt*innen. Ein großer Teil der Einrichtungen prüft einen möglichen Zugang zur Krankenversicherung. Deutlich mehr als die Hälfte der Einrichtungen erhält keine öffentliche Förderung. Innerhalb der öffentlichen Finanzierung zeigt sich eine hohe Bedeutung der kommunalen Förderung, Landesmittel werden deutlich seltener zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich des Personals zeigt sich die herausragende Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements: In 91 % der Einrichtungen ist das medizinische Personal ehrenamtlich tätig. 80 % der Einrichtungen haben kein hauptamtliches medizinisches Personal. Bei Clearingstellen ist das Verhältnis von haupt- zu ehrenamtlichem Personal nahezu ausgeglichen. Die Gesamtpatient*innenzahl der Einrichtungen ist seit 2020 gestiegen. Im Jahr 2023 lag sie bei über 30.000 Patient*innen und über 55.000 Behandlungen.
Die anschließende Diskussion im Panel auf dem Podium und mit dem Publikum drehte sich um drei Schwerpunktthemen: Bei der Bemessung des Erfolgs von Clearingprozessen wurden Zielgruppenspezifika sowie das Vorhandensein eines Behandlungsfonds bzw. eines anonymen Behandlungsscheins und damit auch das Zusammenwirken von medizinischer Versorgung und Clearingberatung diskutiert. Weiterer Forschungsbedarf wurde hinsichtlich möglicher Änderungen in den Finanzierungsstrukturen der Versorgungseinrichtungen sowie der Schließung von Einrichtungen gesehen. Abschließend wurden die Ursachen für das Anwachsen von Parallelstrukturen in den letzten Jahren diskutiert.
Panel 2: Jenseits der Parallelstrukturen? Modelle öffentlich finanzierter Versorgung für Menschen mit prekärem Krankenversicherungsschutz
Das zweite Panel wurde von Amall Breijawi (Diakonie Hessen) moderiert.
Im ersten Vortrag des zweiten Panels stellt Dr. Maria Goetzens, leitende Ärztin der Elisabeth-Straßenambulanz, diese Einrichtung der Caritas in Frankfurt vor. Sie weist darauf hin, dass es für die 1993 gegründete Einrichtung zur medizinischen Versorgung von Menschen in Wohnungsnot keine Regelfinanzierung gibt. Für eine erfolgreiche Behandlung sei eine umfassende Vernetzung mit anderen medizinischen und Beratungsangeboten sowie mit Fachdiensten notwendig. Darüber hinaus betont Dr. Goetzens die Notwendigkeit einer stärkeren Fokussierung auf (standardisierte) Dokumentation und Forschung, z. B. im Hinblick auf medizinische Unterversorgung.
Robert Limmer (Leiter der vom Verein Condrobs in München betriebenen Clearingstelle Gesundheit) umreißt in seinem Vortrag die Arbeit der Clearingstelle. Die 2020 eröffnete und 2022 entfristete Beratungsstelle widmet sich neben dem Clearing von Krankenversicherungen der Bedarfserhebung und dem Wissenstransfer an Fachkräfte. Klient*innen werden an weitere Beratungsangebote und zu gesundheitlichen Behandlungen vermittelt. Für letztere steht ein Gesundheitsfonds der Stadt München zur Verfügung.
Carola Wlodarski, Anonymer Krankenschein Thüringen e.V.
Der Anonyme Krankenschein Thüringen e.V.
Der dritte Vortrag von Carola Wlodarski (Projektkoordination Anonymer Krankenschein Thüringen) führt in das Konzept des Anonymen Krankenscheins Thüringen ein. Das seit 2017 bestehende und durch das Land geförderte Projekt verwaltet einen Behandlungsfonds, der Patient*innen über anonyme Behandlungsscheine, die durch ein Netzwerk von Vertrauensärzt*innen ausgestellt werden, eine freie Arztwahl ermöglicht. Zusätzlich wird eine Clearingberatung angeboten. Herausforderungen bestehen u. a. in der unsicheren Finanzierungssituation, der fehlenden gesetzlichen Verankerung und der teilweise schwierigen Erreichbarkeit der Zielgruppen im Flächenstaat Thüringen.
In der Diskussion, die durch mehrere interessierte Fragen angestoßen wurde, kamen verschiedene Themen zur Sprache. Einerseits stand die Gesundheitsversorgung als öffentliche Verantwortung, die Grundversorgung der Patient*innen zu sichern, im Fokus. Andererseits wurde die Notwendigkeit thematisiert, auf Versorgungslücken aufmerksam zu machen. Anhand von Beispielen wie dem verlängerten Geheimnisschutz und der Anwendung des Nothelferparagraphen wurde diskutiert, wie rechtliche Implementierungsschwierigkeiten den Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinträchtigen können.
Panel 3: Auf dem Prüfstand: Versorgungsstrukturen in Hessen und ihre Zukunft
Das dritte Panel wurde von Professor Ilker Ataç (Hochschule Fulda) moderiert.
Das dritte Panel wurde durch eine Podiumsrunde zu den bestehenden Herausforderungen bezüglich der Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherungsschutz in Hessen eröffnet. Célia Gaillard (MediNetz Marburg) erörterte diese Herausforderungen anhand bisheriger zivilgesellschaftlicher Initiativen der MediNetze Marburg und Gießen, einen Anonymen Behandlungsschein in zu etablieren. Sie verwies außerdem auf die Schwierigkeit in Communities mit vielen betroffenen Menschen, das Wissen um die Angebote zu streuen. Dem schloss sich Matthias Zimmer (Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung Offenbach) an, der außerdem auf die Unterrepräsentation des Themas bei der hessischen Landesärztekammer hinwies. Sarah Lang (Gesundheitsamt Frankfurt) betonte die Bedeutung von empirischen Daten, um das Problem in Politik und Öffentlichkeit sichtbar zu machen und verwies auf konkrete Formulierungen im Koalitionsvertrag der Landesregierung, die sowohl die Unterstützung von Clearingstellen betonen, als auch von der Einrichtung eines „Notfallfonds“ für behandlungsbedürftige Menschen sprechen. Kirsten Eckenberg (Hessisches Landesamt für Gesundheit und Pflege) beschrieb dieses neu eingerichtete Landesamt als Teil des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) und wies auf den sozialpsychiatrischen Dienst der Gesundheitsämter als niedrigschwellige Einrichtung hin. Anschließend wurden die Bedeutung des sozialkompensatorischen Ansatzes des ÖGD sowie dessen finanzielle Ressourcen diskutiert.
In der zweiten Podiumsrunde wurden mögliche Zukunftsperspektiven erörtert. Eckenberg stellte die Funktionen des hessischen Landesamts für Gesundheit und Pflege dar. Lang betonte die Notwendigkeit einer Bedarfsanalyse für Hessen, und forderte eine Stärkung der Koordinationsrolle des ÖGD mit dem Ziel der Sicherstellung der Gesundheitsversorgung für alle. Zimmer hob hervor, dass verstärkt eine Information der Bevölkerung zur Dysfunktionalität des Systems erfolgen müsse. Gaillard wies auf die hohe Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements hin und auf das Best-Practice-Beispiel der Polikliniken mit einer starken sozialräumlichen Orientierung als eine alternative Struktur zum herkömmlichen Gesundheitssystem. Diskutiert wurde außerdem, dass über fehlenden Krankenversicherungsschutz hinaus auch weitere Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsversorgung, wie z. B. sprachliche Hürden und Diskriminierung, angegangen werden müssen.
Die dritte Podiumsrunde thematisierte die Potentiale und Herausforderungen der Vernetzung zwischen verschiedenen Akteur*innengruppen. Probleme wurden hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen ehrenamtlichen Akteur*innen und Behörden deutlich.
In der anschließenden Diskussion wurden die Aufgaben und die finanzielle Ausstattung des ÖGD, sowie die Ausgestaltung seiner gesetzlichen Grundlage besprochen. Unterschiedliche Kompetenzen und Regularien auf Bundes- und Landesebene müssen berücksichtigt werden. Die Idee eines landesweiten runden Tischs zum Thema der Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Krankenversicherung stieß auf große Zustimmung.
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