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Wenn dein Gesicht
zu deinem Gast wird

Von Wael Deeb

Text als Hörfassung

Es ist sieben Uhr abends nach Mitte des Meeres....ein Schlauchboot voller Träume und ein ferner Strand, der alles verspricht. Wer hat uns diesen Traum von einer anderen schönen Heimat erleuchtet, die sich dort im kalten Norden versteckt?

Ich sitze auf meinen Knien. Die Seeluft sticht mich. Ich murmele alle Beschwörungen, um die Angst aus mir zu vertreiben ... Aber immer wenn die Meereswelle steigt, treffe ich die Wahrheit und frage mich, wie ich mein Haus allein gelassen habe? Wie schneide ich meine Nabelschnur wieder durch?

Die Küstenwache fängt uns ab, ich wache auf aus meinem Staunen, aus Seekrankheit, aus dem, was mein Land mir und uns angetan hat.

Der Offizier der Küstenwache sagt: „Ich wünschte, ich könnte euch passieren lassen, aber das demokratische System befiehlt mir, dorthin zurückzukehren, wo ihr hergekommen seid ... In meinem Land ist kein Platz für euch ... Das demokratische System hat legitime Lösungen für euch gefunden, wie Asylantrag in einem neutralen Land oder einem Land in der Nähe eines Stacheldrahtzauns zu stellen“.

Ich sage mir, als wäre ich eine Last für die Geographie, ich habe meinen Platz in meinem Land nicht gefunden und dieses Schlauchboot hat mich nicht so aufgenommen, wie ich bin, also wo ist mein Platz denn?

Es ist zwei Uhr morgens

Es ist die lange Nacht des Flüchtlings ... Ich arrangiere die Geschichte neu, um meine Weisheit zu finden. Mein Arbeitskollege sagt, das demokratische System hätte 2015 nicht zugelassen, dass Millionen von Menschen sterben, ohne etwas zu tun. Beim Asylrecht sind wir uns einig, aber bei den Rechten der Flüchtlinge sind wir es nicht, da wir die Flüchtlinge einteilen in weniger integrierte Gastarbeiter, syrische Kriegsflüchtlinge, die das Steuer- und Krankenversicherungssystem überfordern, dann ukrainische Kriegsflüchtlinge mit blauen Augen, weißer Haut und einer Kultur, die unsere Existenz nicht bedroht. Unser Gespräch wird durch den Anpfiff des Schiedsrichters des Spiels Deutschland gegen Japan bei der WM in Katar unterbrochen.

Dann frage ich ihn nach den Siegeschancen Deutschlands, er scheint zuversichtlich, dass die Mannschaft seines Landes gewinnt, aber er ist noch zuversichtlicher, dass dort Menschenrechte verletzt werden und Fans während der WM kein eiskaltes Bier trinken können. Wir lächeln zusammen und vermeiden es dann, über unseren Bedarf an Gas zu sprechen, um unsere Häuser warm zu halten.

Kurz vor dem Schlafengehen

Es ist vier Uhr morgens...Mein Kind erwacht aus seinem Traum... Es fragt mich erschrocken, was Haie fressen. Die Frage verwirrt mich, ich antworte ihm, sie fressen die kleine Fische. Dann erinnere ich mich an die Träumer, die kein Glück hatten oder vom demokratischen System nicht gerettet wurden, also waren sie auch Nahrung für Haie. Mit geschlossenen Augen wiederholt er die Frage nach seinem Anteil beim Spielen mit anderen Kindern und ob er morgen zum Spielplatz gehen darf. Die Frage überrascht mich wieder einmal: Mir ist klar, dass viele Kinder, die in der Zeit der Corona-Epidemie geboren wurden, unter Angst und Isolation leiden, also wie sieht es mit Flüchtlingskindern aus?

Unwissend spüre ich einen bitteren Kloß im Hals, wenn ich mich daran erinnere, was die Beraterin zu mir gesagt hat, als ich sie gefragt habe, wann mein Kind das Recht hat, wie andere Kinder in den Kindergarten zu gehen. Ihre Antwort lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Wer Ihnen im Jahr 2015 gesagt hat, dass wir das schaffen können, müsse das auch tun. Ich sage ihr mit einem Lächeln, dass das demokratische System, dessen Industrie die Welt erobern konnte, heute keine zusätzlichen Plätze in Kindergärten zur Verfügung stellen kann.

Vor der Mitte des Traums

Ich schlüpfe müde in mein Bett. Ich lebe hier in einem Zustand unendlicher Wohlfahrt, der ein einzigartiges Sozialsystem und ein hohes Maß an Sicherheit für alle Bürger geschaffen hat. Das spiegelt sich auch deutlich in meinem Bett wider, das mit einer dicken Matratze und abgedeckten Kanten ausgestattet ist, die Kindern beim Anstoßen nichts anhaben. Auch die an der schrägen Holzdecke angebrachte Brandmeldeanlage erinnert mich an Sicherheit. Eltern wollen hier ihre Kinder keiner Gefahr aussetzen. Bis auf die fehlende Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn hat man hier alle Sicherheitsvorkehrungen, die man braucht, vom Fahrradhelm bis zum Arbeitslosengeld. Was macht mir dann Sorgen?

Es ist elf Uhr morgens

Im Sozialstaat und im demokratischen System gibt es kein Recht für die Faulen. Ich wache zwangsweise auf. Auf dem Weg zur Arbeit denke ich an den seit Monaten andauernden Krieg in Europa und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft. Alle wiederholen ihre Angst vor hohen Energie- und Lebensmittelpreisen, sogar Bevölkerungsinitiativen wurden gestartet, um in Notfällen kollektive Heizplätze einzurichten. Jeder hier hat Angst vor Armut und Kälte, oder besser gesagt vor dem Entzug des Wohlbefindens. Wohlbefinden ist der heimliche Fluch, der mich hier begleitet.

Wieder bringt mich die Idee zurück zu einem Gespräch mit meiner Nachbarin. Sie zeigte eine konservative Haltung gegenüber dem Thema Kinderwunsch und rief: „Ich habe genug Geld, um in Frieden zu sterben, aber das Problem sind diese armen Menschen, besonders die Flüchtlinge, die nicht genug Geld gespart haben. Wie werden sie ihre Kinder hier erziehen?“

Ich denke nach und antworte mir selbst, wie leben jetzt Tausende von Flüchtlinge in Zelten in versunkenen Flüchtlingslagern im Schlamm? Erscheint es meinem Nachbarn neu, dass viele Völker von Geldsendungen leben, die Flüchtlinge schicken, um ihre Familien zu ernähren? Ich sage insgeheim, dass Wohlbefinden die Kehrseite der Angst vor morgen ist.

Auf dem Heimweg

Auf dem Heimweg von der Arbeit bin ich von Füchsen umringt. Neben mir sitzt ein unbekannter Geist, der die ganze Zeit mit mir über mich redet und dann verschwindet.

Ich fahre schnell mit meinem Auto, fliehe vor allen Verkehrsschildern und Überwachungskameras. Ich frage mich, warum das demokratische System hier so stark in die Details des Lebens eingebunden ist. Zwischen jedem Satz und jedem Satz steht ein weiterer Satz, der mich an meine Entfremdung erinnert.

Ich beiße in einen Apfel, dann höre ich das Geräusch von Kugeln, ich schlafe gebeugt und bin von verängstigten Stimmen umgeben ... Das Boot wird sinken ... Rette uns ... Ich lese ein Buch und die Stimmen der Toten springen von seinen Seiten.

Aber ich genieße auch meine Rechte, ich entdecke sogar Rechte, die ich vorher nicht kannte, zum Beispiel habe ich das Recht, zwei aufeinanderfolgende Tage der Arbeit fernzubleiben, nur weil ich mich beruhigen muss.

Ich genieße hier auch all den Luxus, den die Technologie bietet, und eine Verkürzung der Zeit ... Ich kann meine Meinung frei äußern. So, wie ich Ihnen jetzt schreibe.

Aber ich muss auch zugeben, wenn das Leben hart wird, chatte ich mit Freunden, die die gleiche Identität wie ich habe. Wenn ich mich nach dem Kaffee meiner Mutter sehne, drängen mich meine Schritte in die Cafés meiner Landsleute, und wenn mein Auto kaputtgeht, suche ich einen Mechaniker, der meine Identität teilt.

Ich muss auch zugeben, dass ich das Leben hier liebe, aber ich könnte es mir nicht leisten.

Es ist, als würde ich mir selbst zur Last fallen, denn alle Spiegel zeigen mir ein Gesicht, dessen Besitzer ich nicht kenne.

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Text als Audio

Gelesen von Thomas Hof

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Über den Autor

Wael Deeb ist syrischer Journalist. Vier Jahre studierte er in Damaskus Journalismus und arbeitete anschließend acht Jahre in seinem Beruf. Im Mai 2014 floh er aus Syrien. In Deutschland absolvierte er das C1 Sprachniveau auf Deutsch. 2018 machte er ein Praktikum bei einer Tageszeitung in der Wetterau und ein Praktikum bei der Multimedia-Redaktion im Medienhaus der EKHN. Seit 2018 arbeitet er im Redaktionskreis von www.menschen-wie-wir.de. Seit 2019 studiert Wael Deeb Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt.

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